Mehrheitsentscheid oder Konsensprinzip?
16.03.2014 von viajero
Wie sollte die Entscheidungsfindung in Basis-demokratischen Gemeinschaftsprojekten (z.B. Gemeinschaftsgärten, Ökodörfer, Tauschringen, Gemeinschafts-Wohnprojekten) ablaufen?
Befürworter des einfachen Mehrheitsentscheid argumentieren, dass bei Konsens-Entscheidungen zu lange Diskussionen das Vorankommen erschweren und bereits 1 Gegenstimme eine gute Idee ausbremsen kann.
Befürworter des Konsensprinzips wiederum halten es für wichtig, dass eine Minderheit nicht von einer einfachen Mehrheit „überfahren“ werden kann. Jeder muss in seinen Ansichten ernst genommen und „abgeholt“ werden. Wenn es funktioniert, stärkt dies die Gemeinschaft und jeder „fühlt sich am richtigen Ort“ und wird sich aktiv weiter für das Projekt einsetzen.
Es gibt also begründetes Für und Wieder. Wie könnte Konsens- & Mehrheitsprinzip kombiniert werden für ein gesundes, langfristig funktionierendes Entscheidungssystem? Ein paar Ideen hierzu:
Wann ist Konsensentscheid wichtig?
- Gerade bei basisdemokratischen Gemeinschaftsprojekten spielt die Freiwilligkeit eine grosse Rolle. Die Teilnehmer bekommen meist kein Geld, sondern tragen lediglich eine gemeinsame Idee mit. Wenn sich Teilnehmer nicht mehr verstanden oder „abgeholt“ fühlen, stimmen sie „mit den Füssen ab“ und ziehen sich vom Projekt zurück. Eventuelle Macher des Projektes bekommen dies oft erst dann mit, wenn es zu spät zum ehrlichen Einlenken ist.
- Wenn es bei Entscheidungen um persönliche Gefühle/Befindlichkeiten geht, sollte deswegen immer ein Konsens gesucht werden. Vor allem wenn bei Ablehnung des Vorschlages niemand anderes „geschädigt“ würde, kann auf eine neue Idee gut verzichtet werden.
- Beispiel: Ein Tauschring entscheidet bei der Mitgliederversammlung, ob es für alle Mitglieder Pflicht wird in Ihrem Profil ein Foto und die genaue Adresse zu veröffentlichen. Eine Mehrheit ist dafür, da durch das Foto ein schnelleres wiedererkennen möglich ist und bei Erstkontakt ein erster Eindruck gewonnen werden kann. Die Adresse ist sinnvoll um im vornherein zu sehen, wo der Tauschpartner wohnt und es eventuell zu weit wäre. Allerdings gibt es Mitglieder, die Ängste haben ihr Foto einzustellen, da sie sich nicht fotogen fühlen oder Angst vor Verbreitung im Internet haben. Genauso gibt es Mitglieder mit Ängsten die genaue Adresse anzugeben, da sie nicht wollen, dass ein anderes Tauschringmitglied unangemeldet vor der Tür steht. Falls jetzt die Mehrheit ihre Idee durchsetzt, werden bei der Minderheit aufgrund der persönlichen Relevanz negative Gefühle hängenbleiben. Wenn so etwas öfter vorkommt und die gleichen trifft, verliert das Projekt vielleicht wertvolle Mitglieder. In diesem Beispiel ist das weglassen des Fotos einigen Teilnehmern persönlich sehr wichtig. Damit schädigen sie allerdings nicht die anderen, sondern nur sich selbst (da sie schwieriger gefunden/erinnert werden können). Es kann also gern auf ein „Durchdrücken der Mehrheitsmeinung“ verzichtet werden.
Tricks & Stolpersteine zum Konsensprinzip
- Dabei ist natürlich wichtig, dass die persönlichen Gefühle ehrlich eingebracht und von den anderen wichtig genommen werden. Das klappt besser, wenn sich die Gruppe schon gut kennt. Bei reiner Kommunikation über das Internet wäre das schwieriger.
- Nicht jeder kann sein ablehnendes Gefühl gut in Worte packen und würde von anderen „wegdiskutiert“. Unterstützung bringen Teilnehmer mit hinreichender Empathie, welche sich einfühlen und eventuelle Befindlichkeiten anderer aufnehmen können.
- Beim Konsensprinzip ist es besonders wichtig, dass jeder Teilnehmer nicht nur überlegt, ob er dafür oder dagegen ist, sondern auch, wie wichtig ihm die Sache ist. Hier kommt die verantwortliche Enthaltung als eine wichtige Möglichkeit des Konsensprinzips ins Spiel. Dadurch können Teilnehmer zeigen, dass für sie die abzustimmende Idee zwar nicht optimal ist, jedoch wollen sie nicht im Wege stehen und ein vorankommen mittragen. Beispiel: Eine grosse Mehrheit ist für eine Probezeit neuer Teilnehmer. Ich halte zwar nicht viel davon, aber eigentlich ist es mir nicht so wichtig. Ich enthalte mich aus Anerkennung der Meinung der anderen und damit sich lieber auf wichtigere, produktivere Angelegenheiten konzentriert werden kann. Im Gegensatz zur „verantwortlichen Enthaltung“ steht eine „Enthaltung aufgrund von Gruppendruck“. Das schafft kein gutes Gefühl und führt auch zur Passivität von Teilnehmern.
- Das Praktizieren des Konsensprinzips bringt auch Risiken. Können alle Mitstreiter verantwortlich mit dem Konsensprinzip umgehen? An welcher Stelle ist jemandem (bewusst oder unbewusst) das Projektziel egal und nutzt sein Veto-Recht für persönlichen Nutzen oder überzogene Befindlichkeiten? Wo enthält sich jemand aufgrund eines (tatsächlichen oder eingebildeten) „Gruppendrucks“, obwohl ihm die Idee eigentlich arge Bauchschmerzen bereitet? Ist die Gruppe reif genug um niemanden „glattzubügeln“? Hat der einzelne genug Selbstbewußtsein um die ihm wichtigen Dinge konstruktiv zu vertreten?
Wenn das Veto-Recht von einzelnen ausgenutzt oder Minderheiten durch Gruppendruck trotzdem „überfahren“ werden, kann das Konsensprinzip zur Last werden und „Porzellan zerschlagen“.
Wenn der Konsens allerdings verantwortlich gelebt wird, würde er die Beteiligung sowie das Zusammenwachsen/Vertrauen der Teilnehmer erhöhen.
Wann ist Mehrheitsentscheid sinnvoll?
- Bei Entscheidungen über unpersönliche Aspekte bzw. wenn niemand geschädigt wird, ist ein einfacher Mehrheitsentscheid die effizientere und praktischere Variante. Z.B. ob die Webseite grün oder gelb werden soll oder die Feier am Wochenende oder in der Woche stattfinden soll.
- Bei Themen, welche zwar kaum in persönliche Befindlichkeiten eingreifen, aber grössere Tragweite haben und einen weiten Diskussionsraum (Konsenssuche) zulassen, wäre ein qualifizierter Mehrheitsentscheid (z.B. 80%-Mehrheit) sinnvoll um möglichst viele dabei zu haben. Dies z.B. bei bestimmten Regeländerungen oder Planungen für das laufende Jahr.
Falls eine Gruppe gereift ist, sich gut kennt, nicht zu gross ist und jeder das Werkzeug der Enthaltung (s.o.) verantwortlich nutzt, ist das Konsensprinzip bei allen Entscheidungen anwendbar.
Wie sollten neue Projekte starten?
Wenn neue Projekte mit vielen Teilnehmern starten, könnte zu Beginn Mehrheitsentscheid gelten. Mit dem „Reifegrad“ der Gruppe könnte der Mehrheitsentscheid von einfacher Mehrheit bis in Richtung Konsensprinzip hochgefahren werden.
Bei neuen Projekten mit wenig Teilnehmern sollte zu Beginn mit Konsensprinzip gestartet werden (um niemanden zu verlieren und „noch weniger“ zu sein). Meistens kennen sich die Teilnehmer bereits gut bzw. lernen sich schnell gut kennen. Falls das Projekt schnell wächst und die Anonymität steigt, sollte auf Mehrheitsprinzip umgeschwenkt werden.